Ach, dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seinem Stuhl kommen möchte. - Ich zog einen Sack an, tat mir weh mit Fasten und betete von Herzen stets.
Ein Rechtsgelehrter sollte Martin Luther in Erfurt werden, so wollte es sein irdischer Vater in Mansfeld. Aber sein Vater im Himmel wollte, dass er den Menschen das Recht ihres Gottes, ja vielmehr die Gnade ihres Heilands zeigen sollte. Doch vorerst studierte der junge Bergmannssohn nach damaliger Sitte die Philosophie oder Weltweisheit, die dem eigentlichen Fachstudium vorauszugehen pflegte. 1502 wurde er hierin ein sogenannter Baccalaureus (der heutige akademische Titel lautet Bachelor) und 1505 mit einer großen Feier zum Magister der Philosophie ernannt, der selbst bereits lehren und Vorlesungen halten durfte. Unter allen Büchern hatte ihn ein Buch besonders gefesselt, die Bibel. Er, der gelehrte Zwanzigjährige, hatte noch keine Bibel gesehen geschweige denn besessen. Er kannte von ihr nur die sonn- und festtäglichen Perikopen, die Evangelien und Epistel (Briefe des Neuen Testaments), wie wir sie heute noch in den Kirchen lesen. Hieraus ist zu erkennen, wie tief unter dem Papsttum die Schrift vergraben lag und in welcher religiösen Unwissenheit das gewöhnliche Volk dahinlebte. Eines Tages fand er in der Universitätsbibliothek eine lateinische Bibel, schlug sie auf und fing an, die Geschichte von der Hanna und Samuel (1. Samuel 1 und 2) zu lesen, die einen tiefen Eindruck auf ihn machte. Voller Verwunderung bemerkte er, dass die Bibel viel mehr enthält als die kirchlichen Perikopen. Sie fesselte ihn tief und er kehrte bei seinen Studien immer wieder zu ihr zurück; doch verstand er sie noch nicht recht. Ihm fehlte noch der Schlüssel, der ihre Geheimnisse erschließt, die Erkenntnis des Heilands Jesu Christi. Daneben begeisterte er sich für die Musik und einmal während einer Verletzung seines Beines, die ihn zwang das Haus zu hüten, hat er das Lautenspiel erlernt. Auch schloss er manche Freundschaft, besonders mit Burkhard Spelt oder Spalatin, der ihm später als Kaplan und Sekretär des Kurfürsten Friedrich der Weise so manchen Dienst geleistet hat. Alle rühmen seine hervorragenden Gaben und seinen untadeligen Wandel. Alle waren mit ihm zufrieden, nur er selbst nicht.
Ihn quälte vielmehr beständig das Bewusstsein, bei Gott keine Gnade zu finden und sich nicht in seiner Liebe trösten zu können. Und ohne Gott konnte er doch nicht leben. Zur Gottesfurcht erzogen, von Jugend auf es gewöhnt nach oben zu blicken und allezeit gewissenhaft vor Gottes Augen zu leben, konnte er nicht leichtsinnig und oberflächlich, wie so manche jungen Leute seines Alters, in den irdischen Dingen seine Erfüllung finden. Sein Streben ging weiter und zielte darauf „einen gnädigen Gott zu finden“. Und das ist die schwerste Anklage, die wir gegen die Kirche jener Zeit erheben müssen, dass sie solche gnadenhungrige Seelen nicht zum Frieden führen konnte, sondern auf sich selbst und die eigene Leistung, das eigene Tun verwies. Luther kannte es nicht anders, als dass er sich Gott gnädig und wohlwollend machen musste durch eigene Frömmigkeit. Dabei war nun sein Gewissen zu zart, als dass er jemals glauben konnte, fromm genug vor Gott gewesen zu sein. So nagte während seiner ganzen bisherigen Studienzeit in der Tiefe seines Herzens der Wurm des Unfriedens, den er wohl hier und da vergaß, der aber immer wieder hervorbrach. Auch das Lautenspiel und die Gesellschaft seiner Freunde konnten ihn nicht vertreiben. Und der, der ihm hätte den Frieden bringen können, der war ihm erst recht ein Gegenstand des Schreckens. Christus, der Heiland und Friedefürst, stand ihm von Jugend auf nur als der auf Wolken thronende Richter der Lebendigen und der Toten vor Augen. So, und nicht als der Heiland der bekümmerten Seelen, predigte ihn die damalige Kirche. Immer wenn seine Gedanken zu Christus eilten, fuhr seine Seele erschreckt zusammen. Nur die sogenannten Heiligen der katholischen Kirche, vor allem die Jungfrau Maria und ihre Mutter, die heilige Anna, konnte er mit einigem Vertrauen anrufen. Auf ihr Mitleid verließ er sich. „Maria hilf!“ rief er, als er sich einmal mit seinem Degen selbst verwundet hatte und das Blut heftig aus der lebensgefährlichen Wunde lief. So wäre er, wie er später dankbar für seine bessere Erkenntnis sagt, damals in Marias Namen verloren gegangen.
Noch trüber wurde seine innere, friedlose Stimmung, noch größer seine Gewissensangst, als einer seiner Freunde plötzlich durch einen Unglücksfall starb. Man sagt, er sei nachts auf der Straße erstochen worden. Nur mit Entsetzen konnte er an den Fall denken und dass er selbst so plötzlich vor dem Richterstuhl Gottes hätte erscheinen müssen. Als ihn auf der Rückreise von einem Besuch in Mansfeld am 2. Juli 1505 bei dem Dorf Rotternheim bei Weimar ein starkes Gewitter überraschte, da war’s ihm, als hörte er in dem Donnern die Posaune des jüngsten Tages, die ihn zum Gericht führen sollte. Ein gewaltiger Blitz schlug dicht neben ihm ein und voller Todesangst rief er aus: „Hilf, St. Anna, ich will ein Mönch werden!“.
Durch diesen, in jener dunklen Schreckensstunde ihm entfahrenen Ausruf, den er als Gelübde ansah, glaubte er sich gebunden, obwohl ihm in den folgenden Tagen durch das Zureden seiner Freunde und besonders der Gedanke an seinen „lieben Vater“ Zweifel kamen. Er wusste, dass ein solcher Schritt seinen Vater auf das Heftigste erzürnen und betrüben würde. Doch hierüber kam er bald hinweg. Ein solches Gelübde stellte die damalige Kirche, genau wie die Pharisäer (Markus 7,9)1 allem Anderen, auch den Geboten Gottes voran. Ein Mönch zu werden war das beste Werk, das man tun konnte. Das Mönchsleben galt als ein heiliger, himmlischer Stand und das Kloster als eine Pforte in den Himmel. Nirgends war man seiner Seligkeit sicherer als hier. Die Ablegung des Mönchsgelübdes hieß geradezu eine zweite Taufe, die alle bisherigen Sünden abwaschen würde. So erhoffte sich denn auch der junge Martin Luther im Kloster den ersehnten Frieden zu finden, und wenn auch der Entschluss zum Mönchsleben bei ihm plötzlich aufgekommen war, so trieb ihn doch sein ganzer innerer Seelenzustand dazu, und er glaubte sich von Gott dazu genötigt. Und wer sieht nicht, dass des Herrn Hand ihn auch hier leitete! Sollte er doch gerade im Kloster in Erfurt zum Reformator der Kirche wiedergeboren werden! Der, der den Weg zur Gnade Gottes und zu der rechten Gewissheit des Heils so gewaltig zeigen sollte, musste alle Irrwege und ihre Vergeblichkeit aus eigener schmerzlicher Erfahrung kennen lernen. Am 17. Juli 1505, am Tag St. Alexi, schloss sich die Pforte des Augustinerklosters in Erfurt hinter Luther. Er glaubte für immer der „Welt“ Lebewohl gesagt zu haben; er wollte nur noch für seiner Seelen Seligkeit leben.
Inhalt
Anmerkungen
Quelle
Download
Diesen Artikel können Sie im PDF-Format herunterladen - ... Download